Der Todestag
Heute vor dreissig Jahren, an einem sechsten Mai, der genauso sonnig war wie es hier der sechste Mai heute ist, hat sich meine Mitschuelerin „Muz“ umgebracht. Der Tag war gleichzeitig auch ihr Geburtstag. Obwohl ich drei Jahre juenger war als sie und Muz gar nicht so genau kannte, hat mich ihr Selbstmord tief betruebt und verwirrt.
Ich mochte Muz sehr. Sie war auch in der Theatergruppe unserer Schule – wie ich – und hat unter anderem im „guten Mensch von Sezuan“ (Bertold Brecht) den guten Menschen von Sezuan sehr ueberzeugend gespielt. Wir haben sie alle deswegen bewundert. Wir waren auch beide in der „Teestube“ und haben dort viel Zeit mit dem Lesen von sozialistischer und anarchistischer Literatur verbracht. Sie hat mir immer wieder gute Buecher empfohlen. Gegen Ende ihres Lebens sah man sie aber nur noch selten und immer schwarz gekleidet in der Teestube sitzen.
Ihr Selbstmord war erst beim zweiten Versuch erfolgreich. Vom ersten Versuch weiss ich nicht viel, beim zweiten soll sie ihrer Familie gesagt haben, dass sie eine kleine Reise mache. Sie ist aber nur in den Heizungskeller gegangen um dort ungestoert sterben zu koennen. Natuerlich haben sich dann danach alle gefragt wie so etwas passieren konnte und vorallem: warum Muz so gerne sterben wollte. Ich weiss es bis heute nicht.
An dem Ort, wo ich gross geworden bin, gab es viele Selbstmorde. Sogar die Mutter einer Klassenkameradin hat sich umgebracht und auch der Vater eines Mitschuelers. Muzis Selbstmord hatte einige Nachahmer an unserer Schule – doch wurden diese, soviel ich weiss alle gerettet. Was war nun an diesem Ort so selbstmordgefaehrdent und deprimierend? Es handelte sich hier nicht um ein durch Arbeitslosigkeit und Armut ins Abseits manoevriertes soziales Getto, sondern im Gegenteil: der Ort, an dem diese Selbstmorde passierten, war ein Prominenten Viertel im Sueden von Muenchen. Viele Menschen lebten nicht nur in einer grossen Villa mit Garten, sondern hatten auch noch einen privaten Schwimmingpool und/oder eine Segeljacht am Starnberger See. In dieser Gegend fehlte es den Menschen nicht an materiellen Guetern. Und die Selbstmoerder, die ich kenne, gehoerten alle zu den reichen Leuten und nicht zu den wenigen etwas aermeren Ausnahmen.
Auch in China gibt es Selbstmorde, aber ich glaube, prozentual weniger als in Deutschland. Trotzdem werden hier in den Apotheken staerkere Schlafmittel nur mit aerztlichem Rezept verkauft. Hotelfenster, die hoeher als im vierten Stock liegen koennen nur noch einen winzigen Spalt oder gar nicht mehr geoeffnet werden. Die Gleise in den U-Bahn Stationen werden jetzt fast alle mit Plexiglas Waenden und Schiebetueren abgesichert, so dass niemand mehr auf die Gleise springen kann. Und Waffen zu haben ist grundsaetzlich verboten.
Ich weiss gar nicht, was in Deutschland unternommen wird, um einen Selbstmord zu verhindern. Oder findet Ihr etwa, dass man das nicht verhindern sollte? Ich denke manchmal, dass gerade diese Muz eventuell noch ein glueckliches Leben haette leben koennen, wenn man ihr zur richtigen Zeit geholfen haette.
Labels: Deutschland, Ethik, Geld, Kulturunterschiede, my home, Reich, unglueckliche Kindheit, Vergangenheit
2 Kommentare:
Oh mein Gott. Du hast mir mit der Geschichte eine ähnliche Begebenheit ins Gedächtnis zurückgerufen, die ich völlig vergessen hatte. Allerdings ist meine noch ein Stück weit trauriger...
Wenn ich am Wochenende die Zeit dazu finde werde, werde ich was in meinem Blog dazu schreiben...
Ich glaube, wenn sich jemand selbst töten will, dann wird das so oder so passieren. Aufhängen kann man sich überall, von irgendwelchen Klippen springen auch (okay, nicht in Holland villeicht). Messer gibt es ebenfalls in jeder Schublade.
Was ich mir gut vorstellen kann ist der Nachahmereffekt, je häufiger man direkt mitkriegt, je 'akzeptierter' das wird um einen rum, je einfacher ist es den gleichen Ausweg zu wählen.
Ich denke, dass viele gerettet werden könnten, wenn man Depressionen nicht nur in Deutschland endlich als ernsthafte Krankheit anerkennt und rechtzeitig behandelt. Und ab und zu mehr ein Auge auf seine direkten Mitmenschen hat.
Es ist ja nichts Neues, dass gerade bei denen die materiell alles haben, die Kinder gerne mal geistig verarmt sind. Ne Umarmung und Zeit wäre vielleicht besser als der nächste 10er. :-)
Lg, Britta
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