Wen man da alles so im Internet trifft: die Profile auf Xing und co lessen sich teilweise abenteuerlich. Man koennte glauben, Deutschland besteht – zumindest im Netz – zu 80 % aus hochsensiblen Engeln, die sich dazu herabgelassen haben dieser bornierten Welt einen Besuch abzustatten. Na toll. Nur schade, dass ich nicht dazu gehoere. Aber ich lebe ja auch in China.
Mir dagegen geht es eher wie meiner Katze: Oft vegetiere ich tagelang nur so sehnsuechtig vor mich hin und kriege nichts auf die Reihe. Ein Engel wuerde so etwas nie machen! Aber was solls. Wir bleiben vorerst mal Mensch.
Die Menschen moechten gesehen und geliebt werden, aber es gibt nur relativ wenige Menschen, die sich umgekehrt die Zeit nehmen, hinzuschauen. Liebevoll hinschauen zu koennen ist vielleicht die wichtigste Faehigkeit um sich und anderen etwas mehr Freude zu machen.
Aber es gibt ja noch vieles, was gesehen werden will und was nicht unbedingt Mensch heisst: zum Beispiel die vielen Kompositionen, die darauf warten entdeckt und gespielt zu werden! Und zwar so, wie sie sein wollen und sind. Oder die wunderschoene Landschaft in den Bergen Sichuans, die wegen der grossen Gefahr fuer Bergsteiger verboten wurde. Trotzdem wagen sich immer wieder mutige und abenteuerlustige Menschen hinein in dieses Gebiet und manche kommen nie zurueck. Doch eine Gruppe Bergsteiger, die gestern – nach dreizehn Tagen! – immer noch als vermisst galten, sind inzwischen gefunden worden. Allen 14 Bergsteigern geht es gut. Sie hatten sich nicht verlaufen, sondern waren gezwungen ihre Route zu aendern, da die Landschaft sich veraendert hat. Es gab dort auch kein Handysignal, so dass sie sich nirgends melden konnten. Trotzdem werden sie wahrscheinlich die Kosten fuer das Rettungsteam und eine Strafe von 5000 RMB pro Person zahlen muessen, da sie sich in dieses gesperrte Gebiet begeben haben. Dieses Gebiet in den Siguniang mountains gilt als besonders schoene Naturlandschaft.
“Wen man da alles so im Internet trifft: die Profile auf Xing und co lessen sich teilweise abenteuerlich. Man koennte glauben, Deutschland besteht – zumindest im Netz – zu 80 % aus hochsensiblen Engeln, die sich dazu herabgelassen haben dieser bornierten Welt einen Besuch abzustatten.”
Danke für diese herrlichen Sätze, die all jenes Elend, das manche für ihr Leben halten, so wunderbar auf den Punkt bringt.
In philosophischen Momenten – auf der Intensivstation oder in einer Gletscherspalte oder Montag morgens bei der Wassergymnastik im Rahmen der Krankenkassen-Maßnahme „50 plus – fit für den Job“ – hat man mitunter das Empfinden, man wüßten gar nicht so genau, wer man ist. Seit mindestens 150 Jahren ist das völlig normal. Wir nennen es ‚Moderne‘. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: seit mindestens fünf Jahren gibt es ein Mittel dagegen. Wir nennen es ‚soziale Netzwerke‘.
Die Online-Community, um eine noch dümmlichere Bezeichnung zu verwenden, ist in Wahrheit, das heißt ökonomisch betrachtet eine virtuelle Massenhaltung mit freiwillig an der Futterrinne der Werbewirtschaft angetretenem Datenvieh. Die euphemistisch ‚User‘ genannten Benutzten beziehen jeder eine ‚Profil‘ getaufte Box und füllen ein paar stereotype Fragebögen mit all den Nettigkeiten aus, aus denen heute so ein digital-urbanes Leben zwischen zwanzig und fünfzig besteht, also Job-Mosaik plus Lieblingsserien. Wobei es ihnen zurecht Spaß macht, dass sie überhaupt noch nach ihrer Meinung gefragt werden. (Wozu vernetzt man sich denn sonst, wenn einen keiner nach seiner Meinung fragt?) Sind die Leutchen soweit eingegliedert, dürfen sie nach Lust und Langeweile ihre digitale Box mit jugendfreien Bildern bekleben und mit politisch korrekten Zitaten verzieren, ihren mehr oder eher minder außergewöhnlichen Alltag auf tausenderlei Arten vermerken, vermessen und verkünden wie Thesen an einem postmodernen Kirchentor, außerdem, least but not last, ihren bei Halbgratis-Spielchen erdaddelten Trophäennebbich ausstellen und mit Leuten, die einen seit der Kindergartenabschlussfeier nicht mehr genervt haben, ansteckungsfrei drauflosmenscheln bis zum Bindehautkatarrh. Klingt doof? Nur, weil ich’s doof gesagt habe.
Darum nochmal anders gesagt: hier werden alle Ego-Träume wahr.
Schon das Wort Profil bedeutet nicht weniger als einen klaren Umriss der Person, die hinter dem Schirm sitzt, einen Schattenriss, ein zweidimensionales Portrait also. Wie bei jeder Distanzkommunikation fehlt die dritte Dimension, die räumliche Tiefe, und die Begegnung im Zeitfluss, kurz: die Realität. Ich und die Anderen, das Licht der Welt und mein Schatten, nur diese beiden gegensätzlichen Ebenen konturieren das Image. Jeder Netzwerker wird so zum Schöpfer eines zweiten Präsentier-Ichs, von dessen distinktiven Qualitäten die als ‘Freunde’ umheuchelten Juroren dieses Selbstoptimierungsprojekts zu überzeugen sind. Jeder sein eigener Frankenstein, der ein Second Me, gewissermaßen seinen Sozialavatar, aus den Leichenteilen eines Bedeutungsuniversums zusammenlumpt, in dem von der Biermarke (Astra!) bis zum Zwölftonkomponisten (Hauer!), von der politischen Theorie (Ordoliberalismus!) bis zur Lieblingsmetropole (Shanghai!) schlichtweg alles als Zutat in der narzisstischen Retorte dienen kann, um sich im individualistischen Wettrüsten günstig vor der Konkurrenz zu positionieren. Im Überangebot der Netzgesellschaft – an potentiellen Partnern, Freunden, Mitbewerbern, Charismatikern – kämpfen bange Privatmenschlein mit ähnlichen Strategien um Aufmerksamkeit wie Unternehmen in der Offline-Ökonomie: Unverwechselbarkeit, ‚Alleinstellungsmerkmal‘ im Marketingdummdeutsch, ist für Produkte wie für Menschen das konkurrenzverdrängende Ideal.
vielen Dank fuer diesen langen und gut geschriebenen Kommentar! Ich nehme mir die Freiheit ihm einen eigenen Artikel zu widmen, denn so schoene Kommentare bekomme ich nicht jeden Tag.
liebe Gruesse!